Archivtexte

12
Aug
2005

Miniaturen zur authentischen Erfahrung

Eins
Ich bin nichts als Fremde.

Zwei
Das Eigene ist nichts weiter als ein Stückwerk aus Fremdheiten. Das Eigene bildet sich immer im Spiegel der Fremdheit heraus. Das Eigene kommt aus der Fremde, aus dem Vergleich mit den anderen. Und die anderen sind uns immer fremd.
Vielleicht entspringt daraus in unseren Beziehungen der Wunsch, den anderen immer zu dem zu machen, was wir selber sind oder zu sein glauben, um ein Stück Heimat wiederzugewinnen, die wir im Erwachsenwerden verlieren. Vielleicht wollen wir damit verhindern, daß wir uns immer und immer wieder diesem Gefühl der Fremde ausliefern müssen, weil die anderen als Spiegel uns immer und immer wieder auf uns selbst zurückwerfen.
Denn das, was wir im allgemeinen Selbst und die damit verbundene Erfahrung Selbsterfahrung nennen, ist zusammengesetzt aus permanenten Fremderfahrungen.
Ein Kind ist zu Beginn seines Lebens vollkommen fremd. Es hat kein Selbstverständnis, keine Ich-Erfahrung. Es lernt sich selbst, besser gesagt das, was es von Tag zu Tag wird, was aus ihm gemacht wird, durch Vergleich mit anderen, durch Regeln, durch Anweisungen, kennen. Erst wenn das Kind genug Informationen über die Welt gesammelt hat, also über etwas, das außerhalb von ihm ist, beginnt es zu sagen: Ich. Dann erkennt es sich selbst im Spiegel. Erst wenn genug Fremdheit in das Kind eingeströmt ist, entsteht das Selbst. Ab diesem Zeitpunkt beginnt die Suche nach Identität.
Zugegeben, in unserer Gesellschaft wird einem die Suche danach nicht gerade erleichtert, weil wir immer vorgesagt bekommen: Die Antwort findest du nur in dir selbst. Doch kaum wagen wir den Blick in unser Ich hinein, finden wir nichts anderes als Abgründe der Fremdheit vor. Plötzlich erkennen wir, daß es uns gar nicht gibt. Wir horchen, lauschen, beobachten und treffen immer wieder nur andere. Und die einzig sichere Erfahrung, auf die wir uns dann noch zurückziehen können, ist unser Körpergefühl, denn von unserem Körper nehmen wir an, daß er unser eigener ist, uneingeschränkt. Die Triebe müssen ja eine authentische Erfahrung repräsentieren, weil sie uns am Leben halten, weil sie zum Selbstbehauptungsprinzip gehören. Unabdingbar. Und dann, nachdem wir Tage, Wochen, Jahre in uns hineingehorcht haben und nichts als Fremde fanden, treten wir wieder vor den Spiegel, betrachten unseren Körper und unsere Bewegungen und sagen uns, wie damals als Kleinkinder: Ich. Ja, ich bin es, rufen wir erfreut aus. Mit einem Mal keimt die Hoffnung auf das Eigene auf, das abgegrenzt ist von den anderen. Doch auf den zweiten, den aufmerksameren Blick hin, entdecken wir vielleicht etwas, das uns an jemanden erinnert. Ja, da haben sich der Vater, die Mutter, die Geschwister, die Liebesbeziehungen, die Arbeitsverhältnisse, die religiösen Erfahrungen in unsere Körper eingeschrieben. Und plötzlich sehen wir an uns wieder nur Fremdheit. Da ist nichts mehr Eigenes. Jede Bewegung, jede Geste, jede Falte, jede kleine Krümmungslinie des Körpers erinnert uns an etwas oder jemand. Und dann sind wir uns plötzlich wieder fremd. Panisch ergreifen wir die Flucht, weil wir seit Jahrhunderten nichts anderes hören, als daß das Fremde bedrohlich sei. Nur das Eigene besitzt einen Wert und ist das Maß, an dem wir uns zu messen haben. Und während wir noch flüchten, beginnen wir bereits zu vergessen. Schon im Ansatz des Fluchtgedankens begeben wir uns wieder auf die Suche nach dem Selbst.

Drei
Seit Gott tot ist, suchen wir nach einem Ersatz von Identität, Gewißheit und Eigen/Sinn. Doch der eigene Sinn stellt sich hartnäckig nicht ein, denn es ist immer schon jemand vor uns dagewesen, in unserer Seele, in unseren Körpern, in unserer Sprache, in unserem Leben. Schon bei unserer Entstehung, bei der Verschmelzung von Samen- und Eizelle waren andere anwesend und haben sich in uns eingeschrieben. Wir kommen erst hinzu. Und mit dieser ersten und bereits letzten narzistischen Kränkung kämpfen wir ein Leben lang. Wir wollen alle einmal in unserem Leben schon vorher gewesen sein. Ein authentisches, eigenes Leben geführt haben, bevor wir fremd geworden sind.
Ich denke, daß dies einer der fundamentalen, unauflöslichen Widersprüche unserer heutigen Gesellschaft ist. Wir können nicht akzeptieren, daß wir nichts als Fremde sind, weil wir Angst haben, uns durch den Spiegel der anderen selbst zu entdecken. Weil wir uns dann eingestehen müßten, daß wir ohne die anderen alleine sind, mit all der Fremde, heimatlos, ausgesetzt dem Schmerz, unseren Trieben, unseren Wünschen, unseren Hoffnungen. Wir unterwerfen die anderen, um so den Spiegel, den sie für uns darstellen, der uns als Fremde zurückwirft, weil wir das Eigene in uns nicht finden können, zu zerschlagen. Wir schreiben uns tief in die Herzen der Menschen ein, um so darüber hinwegzutäuschen, daß wir auch für sie nichts weiter als Fremde sind.

Vier
Letztens fragte mich eine Bekannte: Wie stellst du dir das Leben danach vor? Ich antwortete: Keine Ahnung! Doch tief im Inneren hoffe ich natürlich, daß da Nichts ist, daß diese Hölle, die wir uns jeden Tag aufs Neue schaffen, endlich ein Ende findet. Aber im Grunde ist es mir egal, denn was danach kommt, wird mir nicht fremder sein als das Leben hier und jetzt. Ich werde die Augen aufschlagen, mich umsehen und wenn es mir nicht gefällt, werde ich mir den Himmel nach meinen Notwendigkeiten bauen. Als Fremder werde ich die Gegend durchwandern, mich durchfragen und schließlich einnisten. Vielleicht habe ich deshalb vor dem Tod auch keine große Furcht, weil fremd bin ich und fremd werde ich bleiben. So oder so. Und sollte es drüben, oben, unten oder wo auch immer, doch so etwas wie Seele, Selbst oder Eigenes geben, werde ich um so überraschter sein und mich mit der Fremdheitserfahrung auseinandersetzen. Denn dieses Selbst wäre mir dann ebenso fremd wie mein heutiges, gegenwärtiges, diesseitiges.

Fünf
Ein Freund kam einmal zu mir und sagte: Weißt du, ich habe mich irgendwie selbst verloren. Irgendwo zwischen den Alltäglichkeiten und Sachzwängen habe ich das, was ich einmal gewesen bin, verloren. Ich glaube, ich muß mich wiederfinden.
Wiederfinden, hallte es in mir nach. Wiederfinden wäre eine gute Sache. Aber was von sich selbst wollte er denn wiederfinden? Die Eizelle, die er einmal gewesen ist. Wollte er zurückkehren in den Zustand einer Samenzelle, um immer mit dem Strom zu schwimmen, damit er am Ende mit seinem Kopf eine Wand durchbohren kann, damit er jenen Akt der Zeugung vollendet, die ihn zu jenem vierzigjährigen Menschen gemacht hat, der sich dann neuerlich die Frage stellte: Ich glaube, ich habe mich selbst verloren.
Da dachte ich mir, daß ich lieber ein anderer bin. Ohne ein Selbst habe ich wenigstens nichts zu verlieren, da habe ich kein Eigenes, kein Eigentum, keinen Besitzanspruch an mich selbst, den ich beschützen müßte, vor der Welt, den anderen. Ohne Selbst kann ich mich frei bewegen, bin ich immer fremd und immer willkommen, da ich immer wieder weggehen werde. Als Fremder bin ich immer nur zu Gast, immer auf Durchreise und ich kann immer zurückkehren. Und irgendwann werde ich vielleicht in all dieser Fremde heimisch werden, weil ich als Teil von allem zum Ganzen gehöre.
Nicht wie in einer Familie, wo wir alle immer dazugehören wollen. Je vehementer wir es versuchen, desto fremder werden wir einander. Bis wir alle in unseren eigenen Wohnungen und Häusern hocken, um uns nur noch zu besonderen Festen zu begegnen und dann erkennen: Wir sind uns fremd geworden. So als hätten wir einen Verlust erlitten. Der Punkt ist doch: ich war immer fremd, von Kindheit an war mir dieses Leben fremd.

Sechs
Ich bin nichts als Fremde.
Ich werde nie etwas Eigenes sein, außer durch die anderen hindurch. Ich werde ein Eigenes durch den Spiegel. Und ich werde die Spiegel nicht mehr zerschlagen. Denn wenn ich die Spiegel vernichte, zerstöre ich die Bilder, die sie mir zurückwerfen. Und wenn ich diese kleinen Stücke Selbst verliere, bleibt von mir Nichts übrig als dieser stete Tropfen, der in meinem Inneren von der Decke fällt und bei seinem Aufprall ein lautes, immerwährendes, herzzerreißendes Echo meines Schmerzes erzeugt.

Raimund Kremlicka. Miniaturen zur authentischen Erfahrung,
In: Helmut Rizy (Hg.) Das "Eigene" und das "Fremde". Linkes Wort am Volkstimmefest '98. Globus Verlag Wien. S. 46-50.
In: Literatur im Kleinformat. Wien 1999. Heft 8. S.10-14.
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