16
Aug
2005

Der geographische Mittelpunkt

In Bad Aussee, etwas abseits im Kurpark, im verborgenen liegend, steht der geographische Mittelpunktstein Österreichs. Ja, das Ausseerland ist das Herzstück dieses Landes. Und es scheint beinahe so, als hätte die Geographie der Landschaft auf die Mentalität der Menschen abgefärbt.
Vielleicht denkt so mancher Einheimischer, daß sein Herzschlag im Takt mit den Herzen aller Menschen schlägt, die hier leben oder gerne auf Besuch kommen. Wer im Zentrum lebt, merkt aber oft nicht, daß er selbst ganz Peripherie sein könnte. Und so entgeht ihm oft das Wesentliche im Leben an der Randlage. Im Ausseerland habe ich es vor allem mit Randlagenphänomenen zu tun, die zu Mittelpunktdiskussionen hochgespielt werden, um die eigene Bedeutungslosigkeit zu beschönigen, um sich eine Wichtigkeit zu geben, die uns in der globalen Welt, in der medialen Öffentlichkeit gar nicht zukommt. Es scheint auf den ersten Blick, als stünde im Ausseerland die Zeit still, als wäre die Welt in Bronze gegossen, wie die Statue des Erzherzogs Johann im Kurpark, unmittelbar neben dem Mittelpunktstein.
Doch auf den zweiten Blick kann man eine ungeheure Wanderungsbewegung wahrnehmen. Die einen, die Fremden, heute sagen wir Gäste, strömen ins Land, unaufhaltsam, manche auch ungebeten, tageweise, wochenweise. Und mit ihnen kommen die Saisoniers, die für uns arbeiten, in der Hoffnung, sie mögen fleißig sein und, wenn sie ihre Pflicht erfüllt haben, wieder gehen. Die anderen, die Jungen, die gut Ausgebildeten, mit Lebensalternativen Ausgestatteten, die oft auch Flexibleren und Intelligenteren verlassen unser enges Tal. Nicht, weil sie uns oder unsere Landschaft nicht leiden mögen oder sie gar unglücklich wären. Auch sie haben Sehnsucht nach einem festen Platz in der Gemeinschaft, nach Partnerschaft mit bekannten Gesichtern und nach Kindern, die möglicherweise in Großfamilien aufwachsen. Nein, es ist der einfache Mangel an Lebensperspektiven jenseits touristischer Prostitution und Vermarktung, die sie hinaustreibt, fort aus dem Ausseerland.
Und was tun die, die bleiben?
Wir hören es oft: Was sollen wir schon groß tun? Oder: Ist ja ohnehin egal. Arbeiten halt. Überleben. Das Ausseerland wird den Aderlaß der Jungen überleben. Ja, und wahrscheinlich gar nicht mal so schlecht, solange die Touristen nur strömen in endlosen Kolonnen. Doch der Mittelpunkt der Welt, jenseits der Geographie, wird es dadurch nicht werden. Will es ja auch gar nicht, rufen mir die Kritiker entgegen. Na gut, sie nisten sich ein in ihrer Randlage. Sie haben sich eben abgefunden mit ihrer Kleingläubigkeit, die alles verhindert, was nicht alt bewährt ist, was ihren eigenen Erfahrungen zuwiderläuft. Das Experiment ist nicht die Sache der Ausseer. Sie verlassen sich lieber auf das Morgen als auf das Übermorgen. Das Übermorgen, die Zukunft, das, was unsicher ist, was eindringt und gefährden könnte, das überlassen sie den Zweiheimischen, den anderen, denen, die von ihrer Welt nichts verstehen. Das Übermorgen bietet zu viele Risken, die wollen ja auch getragen werden. Nur halt nicht von den Ausseern.
Doch das Risiko ist es, was den Menschen von jeher weiterentwickelte. Die Freude am Neuen, die Neugierde nach dem Undenkbaren, dem Noch-Nicht-Erfahrenen, dem, was hinter den Bergen, jenseits der sieben Zwerge existiert, das ist es, was den Menschen von jeher vorantrieb.
Nun kann man sagen, wie es der Ausseer so gerne tut: Das ist mir wurscht. Oder man könnte das ganze von einer visionären Seite angehen, denn Visionäre gab es immer schon im Ausseerland. Alle waren sie Getriebene von einer Noch-nicht sichtbaren Welt, von dem, was Noch-nicht existierte. Die einen waren mächtig genug, um nicht verjagt zu werden, die anderen klug genug, um zu gehen, bevor sie verjagt wurden. Und dann gab es noch die, die kamen, weil sie dort, wo sie ihre Visionen lebten, in den städtischen Zentren der Welt, ungeliebt waren. Die Dichter und Denker, die Industriekapitäne, die Politiker. Und das Ausseerland bereitete ihnen einen hoffähigen Empfang.

Die Ausseer selbst blieben immer mit sich selbst allein.
Niemand wurde in ihr Denken und Fühlen eingelassen.


So hielten sie Kontakt zu dem, was sie als ihren Mittelpunkt verstanden, die Geographie der Landschaft, die Kultur der Natur und eine Zukunft ohne Vision.
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