20
Aug
2005

Miniatur 6

Gestern sagte ein Freund zu mir:
Weißt du, ich habe mich irgendwie selbst verloren. Irgendwo zwischen den Alltäglichkeiten und Sachzwängen habe ich das, was ich einmal gewesen bin, verloren. Ich glaube, ich muß mich wiederfinden.
Wiederfinden, hallte es in mir nach. Wiederfinden wäre eine gute Sache. Aber was von sich selbst wollte er denn wiederfinden? Die Eizelle, die er einmal gewesen ist. Wollte er zurückkehren in den Zustand einer Samenzelle, um immer mit dem Strom zu schwimmen, damit er am Ende mit seinem Kopf eine Wand durchbohren kann, damit er jenen Akt der Zeugung vollendet, die ihn zu jenem vierzigjährigen Menschen gemacht hat, der sich dann neuerlich die Frage stellte: Ich glaube, ich habe mich selbst verloren.
Da dachte ich mir, daß ich lieber ein anderer bin. Ohne ein Selbst habe ich wenigstens nichts zu verlieren, da habe ich kein Eigenes, kein Eigentum, keinen Besitzanspruch an mich selbst, den ich beschützen müßte, vor der Welt, den anderen. Ohne Selbst kann ich mich frei bewegen, bin ich immer fremd und immer willkommen, da ich immer wieder weggehen werde. Als Fremder bin ich immer nur zu Gast, immer auf Durchreise und ich kann immer zurückkehren. Und irgendwann werde ich vielleicht in all dieser Fremde heimisch werden, weil ich als Teil von allem zum Ganzen gehöre.
Nicht wie in einer Familie, wo wir alle immer dazugehören wollen. Je vehementer wir es versuchen, desto fremder werden wir einander. Bis wir alle in unseren eigenen Wohnungen und Häusern hocken, um uns nur noch zu besonderen Festen zu begegnen und dann erkennen: Wir sind uns fremd geworden. So als hätten wir einen Verlust erlitten. Der Punkt ist doch: ich war immer fremd, von Kindheit an war mir dieses Leben fremd.
Raskolnikow - 22. Aug, 18:47

Wiederfinden ist der Motor für die Suche

Ich meine, der Aussage ist zunächst nicht der Wunsch nach Erkenntnis zu unterstellen, sondern sie drückt das Unbehagen aus und das Sinnieren darüber. Sich verlieren und wiederfinden ist praktisch gesehen ein normaler Prozess, weil er doch nur zum Ausdruck bringt, dass man an sich und um sich Fremdes findet ... dein Kommentar Raimund drückt doch auch ein "Selbst" aus, nämlich eines, das sich darin findet, indem es die Fremdheit erkennt und zum Ausdruck bringt.
Das Problem bei "irgendwo zwischen (...) habe ich das, was ich einmal gewesen bin, verloren" ist, dass hier ein nicht zu erfüllender Wunsch ausgesprochen wird. Ich unterstelle mal, dass sich diese Sehnsucht "zu wichtig" nimmt, sie dient nur zur Ablenkung von dem, was an der Gegenwart nicht passt. Aber es stimmt, es wurde ein Verlust erlitten ... "das Bild einer heilen Welt" kann nicht mehr aufrechterhalten werden. Ich meine, ein guter Verlust, aber nichtsdestotrotz ein schmerzhafter!
Die Aussage "von Kindheit an war mir dieses Leben fremd" ist mir zu undifferenziert ... was soll denn dieses so Fremde sein, wenn es ohnedies alles einhüllt? Außerdem interpretiert jeder seine Kindheit, aber nur weil man interpretiert in der Kindheit habe man sich fremd gefühlt, heißt das noch nicht wie man sich in der Kindheit "tatsächlich" gefühlt hat. Das Problem ist doch, dass es die Symbiose nicht mehr gibt, die offenbar die erste Erfahrung ist ... neun Monate ohne Zähneputzen, Hänseleien, Sinnfragen und gut verköstigt. Zugegeben, es ist auf Dauer etwas eng da drinnen - aber diesen Zustand strebt man immer wieder an, ohne ihn je wieder definitiv erreichen zu können. So viel für jetzt.

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